Gewaltexzess als “Nothilfe”

Bericht vom ersten Prozesstag am 20. Januar 2010 in den Verhandlungen um den Neonazi-Überfall in Pölchow 2007

Vor dem Landgericht Rostock hat heute der Prozess wegen des Neonazi-Überfalls in Pölchow im Juni 2007 begonnen. Eine Gruppe von etwa 60 nicht-rechten Jugendlichen, die an Protesten gegen eine NPD-Demonstration in Rostock teilnehmen wollten, war am Bahnsteig des Ortes aus einer Gruppe von mehr als 100 Neonazis überfallen worden. Brutal traten und schlugen sie mit Fäusten, Flaschen und Zaunlatten auf ihre Opfer ein, zerrten sie an ihren Haaren aus dem Zug und warfen sie eine Böschung hinunter.

Aus der Gruppe der Angreifer sind nunmehr drei Rechte angeklagt: Dennis F. (Jahrgang 1984), Stefan V. (Jahrgang 1985) und Michael Grewe (Jahrgang 1968). Alle drei sind als Neonazis bekannt und schon seit Jahren oder, wie im Fall des Mitarbeiters der NPD-Landtagsfraktion Grewe, seit Jahrzehnten in der Szene aktiv. Ihnen wird schwerer Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen: Mit Kommandos sollen sie die anderen Angreifer angestachelt, auch selber auf ihre Opfer eingeprügelt und daraufhin den Rückzug organisiert haben.

Drei der Betroffenen treten zugleich als Nebenkläger im Prozess auf, für den vorerst fünf Verhandlungstage eingeplant sind. Als Anwälte der Angeklagten treten für Grewe Michael Andrejewski, NPD-Landtagsabgeordneter, für F. Sven Rathjens aus Rostock und für V. ein Anwalt aus Wismar auf.

Zum Beginn der Verhandlungen äußerten sich die Angeklagten nicht zu den Vorwürfen. Grewe ließ allerdings über seinen Anwalt Andrejewski eine Einlassung verlesen, die am gleichen Tag noch auf der Internetseite der NPD Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht wurde und in der er seine Version der Geschehnisse schildert: So will er fast niemanden aus der Reisegruppe der Rechten – aus dem überschaubaren NPD-Landesverband und der Kameradschaftsszene – gekannt haben. Diese seien gänzlich unkoordiniert aus allen Teilen des Bundeslandes angereist, um dann gemeinsam und zeitgleich nach Rostock zu fahren. Beobachtet hätte er jedoch, wie die Reisegruppe der nicht-rechten Jugendlichen vermummt, Parolen rufend und einen schweren Rucksack tragend in Schwaan eingestiegen seien. Der Rucksack, so implizierte Grewe, sei voller mitgebrachter Backsteine gewesen, mit denen sie später im Zug um sich geworfen hätten. Nach angeblichen Belästigungen von Neonazis durch Linke sei Grewe mit anderen Rechten in deren Abteil eingedrungen und hätte eingeschlossene Kameraden befreien wollen. Sich gegen linke Angriffe zur Wehr setzend, sei er von nachdrängenden Rechten immer weiter in die Gruppe der nicht-rechten Jugendlichen hineingeschoben worden. Sein Handeln bezeichnete er als „Nothilfe“.

Nach der Flucht der vermeintlichen Angreifer, vor dem Eintreffen der Polizei, hätte Grewe selber aufbrechen müssen: Der NPD-Fraktionsvorsitzende Udo Pastörs habe ihm den Auftrag erteilt, von Pölchow zu Fuß nach Schwaan aufzubrechen und von dort aus abgestellte Fahrzeuge in Güstrow zu holen, um eilig mit der rechten Reisegruppe weiter nach Rostock fahren zu können. Bevor er jedoch die mehr als 10 Kilometer nach Schwaan flugs zurücklegen konnte, wurde er von der Polizei aufgehalten. Des Weiteren ließ sich Grewe in der Einlassung längere Zeit über seine Gelfrisur und seine „friedensstiftende Rolle“ im NPD-Ordnungsdienst aus.

„Reißt ihnen die Piercings raus!“

Nach einer längeren Pause wurden die drei Nebenkläger als betroffene Zeugen angehört. Sie schilderten, wie sie vom „Fusion-Festival“ zum Protest gegen die geplante NPD-Demonstration Richtung Rostock aufgebrochen waren. Nach dem Einstieg in die Regionalbahn in Schwaan machte sich angesichts der in dem Nachbarwaggon mitfahrenden Neonazis Panik breit. Bedrohlich und gewaltbereit versuchten diese, zu ihnen vorzudringen, woran sie zunächst durch eine verschlossene Zwischentür gehindert werden konnten.

Beim Halt in Pölchow konnten die Rechten durch die Seitentüren in den Waggon gelangen. Sie zerrten die ersten Personen vom Gang nach draußen und prügelten in den Wagen hinein, andere zerstörten die Scheiben von Tür und Fenster oder filmten das Geschehen. Die Nazis sind reingestürmt, schilderte ein Zeuge, es war „überfallartig“. Gezielt suchten sie sich ihre Opfer unter den alternativen Jugendlichen: „Es wurde gewissermaßen selektiert“, beschrieb ein Zeuge die Situation. „Ihr Schweine, jetzt seid ihr dran!“, war zu hören, oder auch: „Reißt ihnen die Piercings raus!“. Grewe, so ein weiterer Zeuge, hat „eine Art Führungsposition eingenommen in dieser ganzen Szenerie“. Zwei der Betroffenen gaben an, von Grewe geschlagen worden zu sein, der dritte Nebenkläger hatte beobachtet, wie er ein anderes Opfer mehrmals in das Gesicht geschlagen und an den Haaren gezogen hatte. Alle Zeugen belasteten Grewe schwer.

Übereinstimmend berichteten die Betroffenen, dass die Neonazis sie aus dem Zug geprügelt hatten. „Man war ausgeliefert“, erzählte einer, es war ein „traumatisches Erlebnis“. Auf dem Bahnsteig wurde weiter auf sie eingeschlagen, bevor sie über oder auch auf einen Zaun und eine Böschung hinunter geworfen wurden. Die Zeugen konnten daraufhin in eine Kleingartenanlage fliehen, wo Anwohner erste Hilfe leisteten.

Das Verhalten der eintreffenden Polizei beschrieben sie als problematisch. Beamte haben sich nicht um sie gekümmert, sie jedoch erkennungsdienstlich behandelt. Als einer der Betroffenen eine Anzeige stellen und das Geschehen schildern wollte, wurde er abgewiesen: Man hätte, so der Polizist, die notwendigen Formulare nicht vor Ort. Auch im Nachhinein haben sich die Ermittlungsbemühungen der Polizei zweifelhaft dargestellt. Lichtbildvorlagen von Tatverdächtigen etwa, berichtete ein Zeuge, waren von schlechter Qualität. Ebenfalls wurde die viele Zeit angesprochen, die seit dem Angriff im Juni 2007 vergangen ist – nach zweieinhalb Jahren könne man sich an gewisse Dinge nur noch schwer erinnern.

Aggressive Anwälte, höhnende Neonazis

Die Verteidiger der angeklagten Rechten versuchten auf dieser Basis durch detailliierte Fragen die Zeugen in Widersprüche zu verwickeln. Zugleich wollten sie mit augenscheinlichen Unterstellungen eine Nähe der Betroffenen zum Linksextremismus und zur Gewaltbereitschaft herbeireden. So versuchten sie zivilgesellschaftliches Engagement gegen Neonazismus mit Straftaten in Verbindung zu bringen. Alle Betroffenen wurden von den Verteidigern nach Rucksäcken voller Steine ausgefragt. Im Aufgreifen dieser Behauptung zeigt sich das Bemühen der Anwälte der Rechten, die Medienstrategie der NPD aufrecht zu erhalten, die schon im direkten Anschluss an den Überfall von einem linken Angriff auf eine friedliche rechte Reisegruppe fabulierte.

Der Anwalt Sven Rathjens und sein Kollege und NPD-Kader Michael Andrejewski führten die Befragung der von der Gewalttat betroffenen Zeugen sehr aggressiv. Unterstützung erhielten sie dabei von den knapp zehn Neonazis im Publikum, welche die Opfer und ihre Schilderungen mit abfälligen Bemerkungen und Gelächter verhöhnten. Unter ihnen befanden sich einschlägig bekannte Rechte aus Rostock sowie aus dem Umfeld der NPD-Landtagsfraktion. Zwei von ihnen, die NPD-Kreistagsabgeordneten Torgai Klingebiel und David Böttcher, mussten die Verhandlung bereits nach kurzer Zeit wieder verlassen: Da sie sich auch in der rechten Gruppe in Pölchow befunden hatten, könnte ihnen im Prozess noch eine Rolle zukommen.

Der Prozess wird am 25. Januar um 9.30 Uhr mit weiteren Zeugenbefragungen fortgeführt.

Weitere Informationen zu den Ereignisse in Pölchow in einer Übersicht unter:
http://www.poelchow-prozess.info

Prozessgruppe Pölchow, 20. Januar 2010

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