“Ich dachte, das wars”

Mehr als zweieinhalb Jahre nach einem Nazi-Angriff beginnt am 20. Januar in Rostock der Prozess gegen drei der Beteiligten – unter ihnen ein hochrangiger NPD-Funktionär.

Es war im Juni 2007, als an die 100 Neonazis und NPD-Kader eine Gruppe von nicht-rechten Jugendlichen auf der Zugfahrt zu einer Anti-NPD-Demonstration angegriffen haben. Nun, nach mehr als zweieinhalb Jahren, eröffnet das Landgericht Rostock ein Verfahren gegen drei der Angreifer. Damit gerät ein Überfall wieder in den Blick der Öffentlichkeit, der bisher zweifelhafte Wirkung hatte – und für die rechte Szene folgenlos enden könnte: Da die Polizei fahrlässig reagierte und ermittelte, kamen fast alle Angreifer unbehelligt davon; Öffentlichkeit und Presse ließen sich von der NPD bereden und interpretierten den organisierten Überfall als Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten; die Staatsanwaltschaft Rostock ermittelte lange Zeit gegen viele der Opfer; und die Neonazis des Bundeslandes können an die Gewalttat ungeniert als Erfolg erinnern.

30. Juni 2007, Pölchow

Als am 30. Juni 2007 knapp 60 Jugendliche in Schwaan in den Zug Richtung Rostock einstiegen, wussten sie von ihren Mitreisenden noch nichts. Die Gruppe hatte sich am Morgen von einem Musik-Festival auf den Weg in die Hansestadt gemacht, um sich dort an einer Demonstration gegen eine NPD-Aktion zu beteiligen. Zwischenzeitlich gerieten einige von ihnen verbal mit einer Handvoll mitfahrenden Rechten aneinander, die daraufhin beim Halt im kleinen Pölchow den Waggon verließen. Plötzlich wurden sie von der Gruppe der Neonazis überrascht: Teilweise vermummt warfen sie vom Bahngleis Steine gegen die Fenster, drangen in das Zugabteil, sperrten Fluchtwege ab, durchkämmten den Waggon und schlugen ungehemmt auf jede Person ein, die sie als antifaschistisch ausmachten. Mit Tritten, Faustschlägen, Flaschen und mit Quarzsand gefüllten Handschuhen gingen die Rechten auf die Jugendlichen los. Nach etwas Zeit trieben sie einige ihrer Opfer aus dem Zug: “An den Haaren haben sie die Leute rausgezogen und weiter auf sie eingeschlagen”, berichtete ein Augenzeuge. “Ich dachte, das wars.” Mit herausgerissenen Zaunlatten wurde auf dem Bahngleis auf die Betroffenen eingeprügelt, andere mussten spalierlaufen und wurden eine Böschung hinuntergestoßen. Es fielen höhnische Sprüche, ein paar der Angreifer filmten mit ihren Kameras und Handys das Geschehen.

Erheblich verletzte und traumatisierte Opfer, zerbrochene Scheiben, Blut und herausgerissene Haarbüschel prägten das Bild des Pölchower Bahnhofes nach dem Überfall. Mehrere der Betroffenen mussten daraufhin und in den folgenden Tagen im Krankenhaus behandelt werden.

Die Gruppe der Rechten bestand nicht aus Unbekannten. Ein Rädelsführer, der durch seine Kommandos herausstach, war Michael Grewe, Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion, Gemeindeabgeordneter in Westmecklenburg und langjähriger Aktivist der Neonazi-Szene. “Heute seid ihr alle dran!”, gaben Betroffene seine Drohungen wieder. “Jetzt wird der Spieß umgedreht!” Am Rande standen Udo Pastörs, Fraktionsvorsitzender der NPD im Schweriner Landtag, sein Parlamentskollege und NPD-Landeschef Stefan Köster sowie der Landtagsabgeordnete Tino Müller. Ein Wort der Mäßigung, gar Empörung über den Gewaltexzess beobachtete niemand bei ihnen. Doch als nach 30 Minuten die Polizei eintraf, die Angreifer suchen und Spuren aufnehmen wollte, wurden sie aktiv. Man könne nicht warten, drängten sie, sondern müsse schleunigst zu der NPD-Demonstration nach Rostock weiterfahren. Und sowieso, gab Pastörs den Beamten zu Protokoll, wären sie die eigentlichen Opfer eines linken Überfalls geworden. Die “Kameraden” hätten sich zur Wehr setzen müssen.

Die Polizei gab nach, und während die NPD-Anhänger gemeinsam im Zug mit einigen der unter Schock stehenden Opfer nach Rostock gefahren wurden, malte sich die Parteispitze ihre Version weiter aus. Personen aus der “linksautonomen Szene”, hieß es in einer folgenden Pressemitteilung, wären beladen mit Rucksäcken voller Schotter- und Pflastersteine in dem Zug unterwegs gewesen. Mit Tränengas hätten sie unbeteiligte Fahrgäste angegriffen, sich auf sie gesetzt sowie mit den Steinen im Abteil um sich geworfen. Daraufhin hätten “nationale Aktivisten” eingegriffen und der “antifaschistische Mob” hätte fluchtartig den Zug verlassen.

Schutzbehauptungen der NPD bestimmen polizeiliche Ermittlungen

Diese offenkundigen Schutzbehauptungen wurden mit polemischen Angriffen gegen den von der Landesregierung geförderten Verein Lobbi ergänzt, der Opfer rechter Gewalt betreut – und sie fanden Gehör: In der Presseberichterstattung war in der Folge von Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten die Rede. Auch die Polizei ließ sich schon kurz nach dem Überfall von der Eloquenz des NPD-Führungspersonals beeindrucken. Obgleich sie für den Tag eine erhöhte Gefährdungslage vorausgesehen hatte, war im Vorfeld keine polizeiliche Begleitung der Neonazi-Gruppe zur Verhinderung von Zwischenfällen organisiert worden. Noch in Pölchow behandelten die Beamten die Opfer des Angriffs wie Täter, fotografierte sie und nahm ihre Personalien auf. Einige der Betroffenen berichteten sogar von abfälligen Bemerkungen der Polizisten. Erst in Rostock wurden die Namen der Rechten aufgenommen. Schilderungen der Betroffenen und Hinweise, dass die Angreifer ihre Tat gefilmt hätten, wurden weitestgehend ignoriert, Kameras oder Handys nicht beschlagnahmt. Doch keiner der Schläger wurde noch vor Ort festgesetzt, es fanden keine sofortigen Untersuchungen statt. Stattdessen ließ die Polizei die Neonazis nach kurzer Zeit ziehen. Sie konnten im Anschluss an ihren Gewaltexzess ihre Demonstration “Linken Gewalttätern kein rechtsfreier Raum!” ungestört durchführen.

Erst nach einem Jahr stellte die Rostocker Staatsanwaltschaft kleinlaut ihre Ermittlungen gegen die Opfer des Angriffs ein – mangels Tatverdacht. Videos von den Vorfällen, die NPD-Fraktionschef Udo Pastörs großspurig der Polizei überreichen wollte, waren nie aufgetaucht. Und nachdem schon vor Ort keine Kameras beschlagnahmt worden waren, hat es im Nachhinein auch keine Hausdurchsuchungen gegeben – obwohl Neonazis im Internet mit Bildern von den Ereignissen prahlten.

Stattdessen entblößte die Polizei die Qualität ihrer Ermittlungen, als sie im April 2008 den Hauptverdächtigen Michael Grewe als “unbekannte Person” mittels Fahndungsfotos suchen ließ – jenen Michael Grewe, dessen Bild schon in der Berichterstattung über den Angriff veröffentlicht worden war und den Zeuginnen und Zeugen bereits wenige Tage nach den Ereignissen namentlich identifiziert hatten. Doch an den Berichten der Betroffenen schienen die Behörden wenig interessiert. Obwohl er die Aussage eines der Angegriffenen bereits wenige Zeit nach der Tat nach Rostock geschickt hatte, klagte ein Anwalt, hätte monatelang niemand geantwortet. Erst nach einem Jahr seien den Zeugen Fotos der Tatverdächtigen vorgelegt worden. “Hektik ist bei der Polizei nicht gerade ausgebrochen”, kommentierte eine andere Anwältin.

Rechter Lobgesang: “Endstation Pölchow”

In der Neonazi-Szene ist Pölchow unterdessen zu einem Synonym für erfolgreiche politische Gewalt geworden. “Weiter so!”, hieß es auf einschlägigen Webseiten, die “Kameradschaft Malchin” brüstete sich: “Ob im RE-Zug in Pölchow oder dem linken Studentenviertel, die Nationale Opposition hat (…) auf allen Ebenen einen klaren Sieg davon getragen.” Stolz trugen Neonazis T-Shirts zur Schau, die den Angriff unter dem Motto “Endstation Pölchow” glorifizierten.

Es ist nicht verwunderlich, dass die NPD-Führungsspitze des Bundeslandes in den Angriff in Pölchow verwickelt war und ihn medial zu rechtfertigen versucht. Brutale Gewalt gegen Andersdenkende und selbsternannte Feinde kennzeichnen die Neonazi-Szene und damit auch die eng mit ihr verbundene NPD. Die Partei liefert nicht nur mit ihrer beständigen rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Propaganda die ideologische Rechtfertigung für Angriffe auf nicht-rechte Jugendliche oder Politiker, Migranten oder polnische Bürgeren und die Schändung von Gedenkstätten. Auch ihre Mitglieder haben wenig Berührungsängste gegenüber Gewalt: Neben Stefan Köster, Landesvorsitzender und wegen Tritten auf eine am Boden liegende Frau einschlägig verurteilt, verkauft der Rostocker Landtagsfraktionskollege Birger Lüssow in seinem Ladengeschäft und Versandhandel “Dickkoepp” Sturmhauben, Pfefferspray und T-Shirts mit gewaltverherrlichenden Aufdrucken oder stammt Tino Müller aus dem Landkreis Uecker-Randow aus einem rechten Milieu, das sich mit Selbstbezeichnungen wie “Aryan Warriors” rühmt.

Ein Erfolg ist der Angriff in Pölchow für die Neonazis nicht nur aufgrund einer Berichterstattung, die den Vorfall relativiert. Die nachlässigen polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen, die anfänglich die Schuld bei den Opfern suchten, enden nach mehr als zwei Jahren fast ohne Ergebnis. Für die Mehrheit der Schläger und die widerspruchslos zuschauenden NPD-Funktionäre bleibt die Gewalttat folgenlos. Was für Konsequenzen sie für die verbliebenen drei Angeklagten hat, wird sich ab dem 20. Januar vor dem Landgericht Rostock zeigen.

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