Nach Neonazi-Überfall in Pölchow: Mehrzahl der Angreifer kommt folgenlos davon

Prozessgruppe begleitet beginnende Verhandlungen – Schlampige Ermittlungen führen zu nur drei Anklagen

Pressemitteilung der Prozessgruppe Pölchow vom 18. Januar 2010

Kritik an den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft äußert die Prozessgruppe Pölchow wenige Tage vor Beginn der Verhandlungen vor dem Landgericht Rostock. Mehr als zweieinhalb Jahre, nachdem eine große Gruppe Neonazis nicht-rechte Jugendliche in einem Zug in Pölchow brutal überfallen hatte, stehen nun nur drei der Angreifer vor Gericht. Die Prozessgruppe Pölchow, die sich aus Betroffenen der rechten Gewalt und Freunden zusammensetzt, wird die Verhandlungen im Januar und Februar kritisch begleiten.

Am 30. Juni 2007 befand sich eine Gruppe von etwa 60 nicht-rechten Jugendliche auf der Bahnfahrt nach Rostock, um an Protesten gegen eine NPD-Demonstration teilzunehmen. Unvermittelt wurde sie am Bahnhof Pölchow aus der mitfahrenden Menge von knapp 100 Neonazis attackiert: Sie griffen mit Steinen den Zug an, traten und prügelten mit Fäusten, Flaschen und Zaunlatten auf ihre Opfer ein, zerrten sie an den Haaren aus dem Zug und warfen sie eine Böschung hinunter. Andere filmten und fotografierten das Geschehen. Als nun angeklagter Rädelsführer hervorgetan haben soll sich Michael Grewe, Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion, Gemeindeabgeordneter in Westmecklenburg und langjähriger Aktivist der Neonazi-Szene. Am Rande des Geschehens standen Udo Pastörs, Stefan Köster und Tino Müller, NPD-Landtagsabgeordnete und hochrangige NPD-Funktionäre. Ein Wort der Mäßigung an ihre prügelnden Anhänger, gar Empörung über den Gewaltexzess beobachtete keiner der Betroffenen bei ihnen.

Die NPD-Riege gab stattdessen der Polizei und auch der Presse ihre Version eines vermeintlich “antifaschistischen” Angriffs zu Protokoll, die sich als nicht mehr als Schutzbehauptungen für ihre Klientel entpuppten. Doch sie waren erfolgreich: In der Öffentlichkeit wird bis heute teilweise von Auseinandersetzungen zwischen “Linken” und “Rechten” gesprochen, die Behörden ermittelten lange Zeit gegen viele der Opfer. Erst nach einem Jahr stellte die Staatsanwaltschaft diese Ermittlungen kleinlaut ein – mangels Tatverdacht.

Bis dahin hatten sich die Ermittlungen gegen die rechten Angreifer bereits als äußerst fahrlässig herausgestellt. Noch am Tatort unmittelbar nach dem Überfall hatte die Polizei sich wenig Zeit für Untersuchungen genommen, weder Kameras noch Handys mit den Aufnahmen der Neonazis beschlagnahmt. Niemand von ihnen wurde festgehalten, stattdessen konnten sie in Rostock unbehelligt eine NPD-Demonstration “gegen linke Gewalttäter” durchführen. Anwälte der Opfer klagten später über Verzögerungen und fehlende Kooperation der Behörden. Die ließen stattdessen den einschlägig-bekannten Neonazi-Funktionär Michael Grewe, der von Betroffenen bereits namentlich identifiziert worden war, als “unbekannten Randalierer” zur Fahndung ausschreiben.

“Diese schlampigen Ermittlungen haben dazu geführt, dass sich nur drei Neonazis vor Gericht verantworten müssen”, kritisiert Franziska Holtz, Pressesprecherin der Prozessgruppe Pölchow. “Für die Mehrheit der Schläger und die widerspruchslos zuschauenden NPD-Funktionäre bleibt die Gewalttat folgenlos.”

Die Prozessgruppe Pölchow weist zugleich auf die Rolle der NPD hin, deren Mitarbeiter der Angeklagte Michael Grewe ist. Brutale Gewalt gegen Andersdenkende und selbsternannte Feinde kennzeichnen die Neonazi-Szene und damit auch die eng mit ihr verbundene NPD. Die Partei liefert nicht nur mit ihrer beständigen rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Propaganda die ideologische Rechtfertigung für Angriffe auf nicht-rechte Jugendliche oder Politiker, Migranten oder polnische Bürgeren und die Schändung von Gedenkstätten. Auch ihre Mitglieder haben wenig Berührungsängste gegenüber Gewalt: Neben Stefan Köster, Landesvorsitzender und wegen Tritten auf eine am Boden liegende Frau einschlägig verurteilt, verkauft der Rostocker Landtagsfraktionskollege Birger Lüssow in seinem Ladengeschäft und Versandhandel „Dickkoepp“ Sturmhauben, Pfefferspray und T-Shirts mit gewaltverherrlichenden Aufdrucken oder stammt Tino Müller aus dem Landkreis Uecker-Randow aus einem rechten Milieu, das sich mit Selbstbezeichnungen wie „Aryan Warriors“ rühmt.

In den nächsten Wochen wird die Prozessgruppe Pölchow die Verhandlungen kritisch begleiten und sich um eine öffentliche Kontextualisierung von NPD-Propaganda und rechter Gewalt, die fahrlässigen Ermittlungen und die Reaktionen auf den Angriff bemühen. Sie wird Prozessberichte veröffentlichen, die Betroffenen des Überfalls unterstützen und sich gegen Anfeindungen von Seiten der Neonazi-Szene solidarisch erklären.

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