Vermeintliche Entlastungszeugen stellen Neonazi-Szene und Verteidiger bloß

Bericht vom dritten Prozesstag am 29. Januar 2010 in den Verhandlungen um den Neonazi-Überfall in Pölchow 2007

Einen überraschenden Verlauf nahm der heutige dritte Verhandlungstag im Prozess um den Neonazi-Angriff auf eine Gruppe von nicht-rechten Jugendlichen im Juni 2007 in Pölchow gegen drei Angeklagte, unter anderem den NPD-Mitarbeiter Michael Grewe. So wurde nicht nur offenbar, dass einer der Verteidiger sich im Vorfeld mit zwei Zeugen aus der rechten Szene getroffen hat. Auch kam heraus, dass der bekannte Neonazi-Funktionär und NPD-Mitarbeiter David Petereit mindestens einen der Zeugen in der Anklageschrift lesen ließ, die Teil der Ermittlungsakten ist. Außerdem schilderten auch heute wieder mehrere Betroffene den brutalen Angriff der Neonazis aus der Reisegruppe von mehr als 100 Rechten.

Die beiden Zeugen Stefan W. und Siegfried H. wurden von der Verteidigung geladen. Sie hatten bisher keine Aussagen bei der Polizei gemacht, sie als nicht wichtig erachtet, wie W. meinte. Zusammen mit Karl J., der beim letzten Verhandlungstag aussagte, und anderen Rechten sollen die beiden auf dem Weg zur NPD-Demo gewesen sein und sich im Waggon der nicht-rechten Jugendlichen aufgehalten haben. In den Texten der Neonazi-Szene und der NPD und der Einlassung Grewes am ersten Verhandlungstag ist von dieser Gruppe von Rechten die Rede, die von den „Linksextremisten“ attackiert worden sein sollen. Daraufhin hätten die Neonazis aus dem anderen Waggon „Nothilfe“ geleistet, was ihnen nun als Angriff angelastet werden würde.

Unmissverständlich machten die beiden Zeugen klar, dass sie sich der rechten Szene zurechnen. Aus Teterow kommend seien sie in Güstrow in den Zug nach Rostock gestiegen, der sie zur NPD-Demonstration bringen sollte. Stefan W. aus Gnoien gab an, dass sie nach dem Einstieg der nicht-rechten Jugendlichen in Schwaan von diesen aufgefordert worden seien, den Waggon zu verlassen; dann würde ihnen nichts passieren. Einer aus ihrer Gruppe sei jedoch am Kragen gepackt und seine Jacke der rechten Modemarke „Thor Steinar“ beschädigt, ein anderer angespuckt worden. W. erwähnte dabei mehrmals den mit ihm befreundeten Karl J., der mit CS-Gas angegriffen worden sei. J. allerdings sagte beim zweiten Verhandlungstag aus, dass er bis auf eine andere Person niemanden aus der Gruppe gekannt haben will, selber nicht verletzt worden sei und niemanden benennen könne, der bei dem vermeintlichen „antifaschistischen“ Angriff angegangen worden sei.

Nach dem Ausstieg aus dem Waggon in Pölchow, so W., habe er auf dem Bahnsteig Michael Grewe getroffen, der sich nach im Zug verbliebenen Rechten erkundigt und anschließend auf der Suche nach ihnen die Bahn betreten hätte. Dabei hätten ihn die „Linken“ angegriffen und aus dem Zug mit Steinen gegen die Fenster geworfen, obgleich er selbst keine fliegenden Steine gesehen hätte. Auch vom folgenden Geschehen will W. nichts mehr mitbekommen haben, als er sich wartend die Zeit auf dem Bahnsteig vertrieb.

Akteneinsicht für die Entlastungszeugen?

Zum Prozess gekommen, äußerte W. plötzlich in der folgenden Befragung, sei er durch den NPD-Mitarbeiter David Petereit. Der habe auch ein Treffen am vorherigen Freitag mit Sven Rathjens vermittelt, dem Anwalt des Angeklagten Dennis F., der ihn und H. zusammen über die Ereignisse in Pölchow befragt haben soll. Durch Petereit habe er auch in der Anklageschrift gegen Michael Grewe lesen können, die Teil der Ermittlungsakten ist, und wisse, worum es im Verfahren geht.

In die Unruhe hinein, die ob dieser Aussagen entstand – schließlich sollen Absprachen von Angeklagten und Zeugen vor Gericht vermieden werden –, bestätigte Rathjens das Gespräch mit den beiden Rechten. Absprachen will er dabei nicht getroffen haben.

Nach Pausen und der Befragung eines Betroffenen kam Siegfried H. aus Rostock zu Wort, der aus Teterow stammt und in der rechten Gruppe mit Stefan W. und Karl J. gewesen sein soll. Auch er kam nicht umhin, das Treffen mit dem Anwalt zu bestätigen. Ansonsten gab auch er an, dass seine Gruppe zum Verlassen des Waggons aufgefordert sein soll. Einer seiner Bekannten habe dabei einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, die Kleidung eines anderen sei beschädigt worden. Als sie in Pölchow ausgestiegen seien, habe Michael Grewe sie draußen schon angesprochen. Sie wären dann etwas zur Seite gegangen und hätten von den anschließenden Ereignissen nichts bemerkt.

In Details widersprachen sich die bisher gehörten Zeugen aus dieser Gruppe, obgleich sie eine Version der Ereignisse schilderten, die ziemlich kompatibel war mit der Einlassung Michael Grewes vom ersten Prozesstag. Jener Michael Grewe, der wie auch der von den beiden Zeugen benannte David Petereit Mitarbeiter und Landesvorstandsmitglied der NPD ist.

Weniger überraschend war, dass die Verteidigung von Grewe neben dem NPD-Landtagsabgeordneten Michael Andrejewski nun auch Thomas Penneke umfasst. Der Rostocker Anwalt ist in den letzten Jahren zunehmend als Anwalt der rechten Szene aufgefallen, der Neonazi-Kader vor Gericht vertritt. Mit Rathjens sitzt er in einer Kanzlei und trat auch schon als Anwalt von David Petereit auf.

„Es war ein einseitiger Angriff“

Neben den rechten Zeugen kamen heute weitere drei Betroffene aus der nicht-rechten Jugendgruppe zu Wort. Einer von ihnen berichtete, wie er unter Rufen wie „Jetzt seid ihr dran!“ von den Neonazis misshandelt wurde und sie die Jugendlichen an den Haaren aus dem Zug zerrten, so dass sogar Haarbüschel herausgerissen wurden. Alle waren wie besessen, erinnerte er sich. Anschließend haben einige sich umgezogen, bevor sie unter Zurufen in den nahen Wald flüchteten.

Wie er wies auch eine andere Betroffene auf die Rolle Grewes bei dem Überfall hin, der den Neonazis Kommandos gegeben hatte. Sie erinnerte sich an einen jungen Mann, der reglos auf dem Boden lag und auf den die Angreifer immer wieder eintraten. Eine Frau, die vor ihr stand und die zu beschwichtigen versuchte, brach nach einem heftigen Tritt in den Bauch zusammen. Die Zeugin konnte aus dem Zug fliehen, war aber panisch und hyperventilierte. Wir kamen uns hilflos vor, schilderte sie ihre Eindrücke, da wir uns dem Willen dieser Gruppe ausgesetzt sahen. Sie betonte auf Nachfragen, dass es keine Auseinandersetzung, sondern ein einseitiger Angriff war.

Zugleich erinnerte sie sich an die kleine Gruppe der Rechten auf einer anderen Ebene ihres Abteils, die den Waggon in Ruhe verlassen hätte. Ein dritter Zeuge wusste mehr über die Situation zu erzählen: Die Gruppe ist aufgefordert worden, zu gehen, um Konflikte zu vermeiden. Ihre Kleidung und Symbolik, die rechte Propaganda wiedergibt, sei als Provokation zu werten. Gewalt oder Pfefferspray hat er nicht wahrgenommen, stattdessen erinnerte ihn die unspektakuläre Aktion an einen Videospot über Zivilcourage.

Der Betroffene schilderte eindrücklich die Gewalt der Neonazis und hatte auch Grewe beim wiederholten Zuschlagen beobachtet. Ein junger Mann, erzählte er, war auf dem Bahnsteig andauernd am Boden liegend getreten worden. Als ein Kind zu weinen begann, konnte er ihn wegzerren; die Ablenkung, vermutete er, hat ihm angesichts der hemmungslosen Gewalt das Leben gerettet. Waren sie einmal aus dem Zug gezerrt, wurden die Betroffenen auf dem Bahnsteig weiter misshandelt und an Armen und Beinen über einen nahen Zaun geworfen.

Alle der drei gehörten Betroffenen gaben wieder, wie unkoordiniert die Polizei vor Ort reagiert hat. Angesichts der Eindrücke vor Ort, meinte einer, hätte den Beamten die Situation ziemlich klar sein müssen. Stattdessen jedoch hatte sie nicht so gewirkt, erzählte ein anderer, als ob sie nach Tatverdächtigen suchen würde. Auch im Nachhinein schienen die Ermittlungen eher halbherzig: Fotos von den Tatverdächtigen, die den Zeugen vorgelegt worden waren, waren häufig unbrauchbar und nicht gerichtsverwertbar.

Staatsanwältin lehnt Untersuchung von Videoaufnahmen ab – Neonazis verursachen Tumult im Gerichtssaal

In ihren Schilderungen erinnerten sie wiederholt an Filmaufnahmen und Fotos, die Neonazis von dem Angriff gemacht hatten, insbesondere wurde wiederholt eine Kamera mit Stabstativ angesprochen. Die Polizei hatte es damals unterlassen, Kameras und Handys zu beschlagnahmen – bis auf drei Bänder mit Digital-Aufnahmen, wie heute herauskam, die leer oder mit unverfänglichem Material bespielt sein sollen. Die Nebenklage beantragte, diese genauer zu überprüfen und gelöschte Daten wiederherzustellen, um genaueren Einblick in die Ereignisse in Pölchow über das Tatgeschehen zu bekommen. Angesichts der Schwere dieser Tat, so ein Anwalt der Nebenklage, sollte man zu ihrer Aufklärung nichts unversucht lassen. Doch trotz der Vielzahl von Berichten von Betroffenen über Aufnahmen der Neonazis lehnte die Staatsanwältin dieses Ansinnen heute als „unnötig“ ab.

Auch heute wieder beobachtete eine Gruppe aus Neonazi-Aktivisten aus dem NPD-Umfeld aus Rostock sowie Westmecklenburg und Vorpommern den Prozess. Unter ihnen waren auch der NPD-Landtagsabgeordnete Tino Müller und sein Bruder Marco, die damals in der Gruppe der zugreisenden Rechten waren. Der Aufforderung des Richters, dass alle daran Beteiligten den Saal verlassen sollten – schließlich könnten sie noch als Zeugen vorgeladen werden – leisteten sie jedoch keine Folge und blieben unauffällig. Stattdessen machten andere Neonazis auf sich aufmerksam und versuchten, Freundinnen und Freunde der Betroffenen anzugehen, so dass schließlich sogar die anwesende Polizei einschreiten musste.

Der Prozess wird am 04. Februar um 11.30 Uhr fortgesetzt.

Weitere Informationen zu den Ereignisse in Pölchow ausführlich unter:

http://www.poelchow-prozess.info

Prozessgruppe Pölchow, 29. Januar 2010

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